Berufung mit Risiko: Mediziner:innen im Burnout

Interview zum Thema Burnout bei Ärzt:innen mit Chefarzt Dr. Clemens Boehle aus dem Gezeiten Haus Bonn

APRIL 2024

LESEZEIT: 10 MINUTEN

KATEGORIE: INTERVIEW, BURNOUT, MENTALE GESUNDHEIT

AUTOREN: DR. MED. CLEMENS BOEHLE UND ANNIKA HOLTERMÜLLER

Wir haben mit Dr. med. Clemens Boehle, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Gezeiten Haus Klinik Bonn gesprochen. Er blickt mit seiner langjährigen Erfahrung auf das Thema Burnout bei Medizinern* und erläutert welche Ursachen dazu führen und was wir tun können um denen zu helfen, die sonst der Gesellschaft helfen.

Warum sind gerade Mediziner:innen besonders gefährdet?

Sie sind selbst bereits seit über 20 Jahren als Arzt tätig und arbeiten täglich mit vielen Ärzten zusammen. Wie kommt es, dass gerade Mediziner:innen vermehrt unter Burnout leiden?

Boehle: Mit dem Titel "Lebensaufgabe statt Lebens-Aufgabe" wurde schon vor 20 Jahren im Deutschen Ärzteblatt auf das Phänomen des Burnout bei Ärzt:innen aufmerksam gemacht. Die Situation ist seither nicht besser sondern noch problematischer geworden. Angehörige dieser Berufsgruppe sind es gewohnt, immer Bestleistung zu erbringen, von der Schule, übers Studium bis in den Job. Sie wählen ihren Beruf aus Überzeugung mit großem Idealismus und besonderem Verantwortungsbewusstsein. Wohlwissend, dass es kein 9-to-5-Job ist, arbeiten sie jedoch häufig von Beginn der Weiterbildung zur Fachärzt:in bis in die Niederlassung oder leitende Positionen dauerhaft an ihrer Leistungsgrenze und eben oft auch darüber hinaus.

Das funktioniert unter Inkaufnahme von Einschränkungen des Privatlebens und Toleranz beziehungsweise Verdrängung von vielgestaltigen Beschwerden häufig auch recht lange, bis etwas Unvorhergesehen passiert, wie zum Beispiel die Umstrukturierung des Arbeitsbereichs oder zusätzliche Belastungsfaktoren im Privatleben. Das kann der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Prinzipiell entwickelt sich ein Burnout-Syndrom aber eher schleichend resultierend aus einer Diskrepanz zwischen den Herausforderungen, die sich aus einem Zusammenspiel zwischen äußeren arbeitsplatzbezogenen Faktoren und inneren persönlichkeitsbedingten Faktoren ergeben und den individuellen Bewältigungskompetenzen und Ressourcen. Wenn dann noch die strukturellen Probleme des Gesundheitssystems und deren Konsequenzen für den Arbeitsalltag in einem krassen Kontrast zu den ursprünglichen Idealen und Werten stehen, ist der Nährboden für eine Burnout Entwicklung bereitet.

Sind alle Ärzt:innen gleichermaßen gefährdet?

Laut Bundesärztekammer gibt es in Deutschland 34 verschiedene Fachärzt:innen-Richtungen, hinzu kommen diverse Möglichkeiten für Fort- und Weiterbildungen zur Erlangung von weiteren spezifischen Qualifikationen und Fähigkeiten. Fällt Ihnen eine Personengruppe auf, welche besonders hinsichtlich der Gefährdung hervorsticht?

Boehle: Unsere Patient:innen kommen aus allen Kontexten – aber eine Häufung beobachten wir bei Mediziner:innen mittleren Alters, die entweder niedergelassen sind oder in Kliniken in leitenden Positionen arbeiten. Wir merken, dass die zunehmende Kommerzialisierung der Gesundheitsbranche immer häufiger wesentliche Stressfaktoren mit sich bringt. Je nach Größe der Einrichtungen und Personalausstattung haben Ärzt:innen kaum noch Zeit für ihre Patient:innen, sondern werden von administrativen Aufgaben, Termin- und Kostendruck sowie Dokumentationsverpflichtungen zunehmend vereinnahmt. Niedergelassene sind oft kaum noch echte Freiberufler:innen mehr, sondern eher Kleinunternehmer:innen mit erheblichen Herausforderungen bezüglich Personal-, Verwaltungs- und IT-Strukturen. Auch bei den vorrangig klinisch tätigen Assistenz – und Oberärzt:innen geht die besondere Verantwortung für die Gesundheit und das Leben von Menschen mit einem erheblichen Stress einher. Zudem kommt noch dazu, dass durch strukturell bedingt wachsenden Personalmangel den immer weniger werdenden Ärzt:innen für immer höhere Anforderungen wie zum Beispiel durch Qualitätssicherungs – und Dokumentationsvorschriften immer weniger Zeit für die Versorgung ihrer Patient:innen bleibt.

Woran merke ich, dass es zu viel wird?

Jeder kennt vermutlich das Gefühl beispielsweise nach einem langen Arbeitstag erschöpft und müde zu sein. Doch wie kann man die alltäglichen Erschöpfungssymptome von einem Burnout unterscheiden?

Boehle: Überlastung entwickelt sich in kleinen Schritten und ist immer individuell geprägt. Häufig ist die Überbelastungs-Spirale daran zu erkennen, dass die eigenen Bedürfnisse vernachlässigt werden, kaum noch Zeit für nicht-berufliches bleibt und kompensatorisch immer mehr gearbeitet wird. Die Ärzt:innen werden zum Workaholic, zunächst mit immer größerem Engagement und dann mit immer größerer innerer, zum Teil zynischer Distanzierung.

Erste Symptome der physischen und psychischen Erschöpfung sind häufig Schlafstörungen, ein zunehmend kreisendes Gedankenkarussell, Konzentrationsstörungen oder auch häufigere Infekte. Viele Ärzt:innen medikamentieren sich im ersten Schritt selbst oder greifen zu Alkohol und flüchten sich in zynische Distanzierung gegenüber der beruflichen Situation. Im weiteren Verlauf kommen funktionelle körperliche Beschwerden hinzu, wie zum Beispiel:

  • Rückenschmerzen
  • kardiale oder gastrointestinale Symptome
  • Angst und Panik
  • depressive Beschwerden mit niedergeschlagener Stimmung
  • Freudlosigkeit
  • Antriebsmangel
  • Müdigkeit
  • Unruhe
  • Selbstzweifel

Mein Rat: Schon die ersten Anzeichen ernst nehmen und sich Hilfe organisieren. Bereits einige Stunden Beratung, Coaching- oder Psychotherapie können wertvolle Impulse geben und eine Weichenstellung und einen anderen Umgang mit der Überforderungssituation anstoßen.

Burnout-Test: Bin ich im Burnout?

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Wie helfen Sie ausgebrannten Ärzt:innen?

Ärzt:innen möchten oftmals in erster Linie anderen helfen und stellen sich selbst dementsprechend oft zurück. Zudem kommen sehr hohe Anforderungen an sich selbst hinzu. Wie schaffen sie es dennoch Ärzt:innen zu helfen und ihnen zu zeigen, dass sie selbst zu Patient:innen werden?

Boehle: Ein erster Schritt besteht darin, zur Ruhe zu kommen, innezuhalten, um sich selbst wieder spüren zu lernen. Das Ausmaß der Erschöpfung der eigenen Grenzen wahrzunehmen, was häufig erst durch eine Herausnahme aus dem aktuellen Belastungskontext durch eine Krankschreibung zu realisieren ist. Um solch einen Schritt zu gehen, muss es im Gespräch gelingen, ein Erkennen und Anerkennen der Überlastungssituation bei betroffenen Ärzt:innen herzustellen, um aus der Eskalationsspirale, den eigenen oft überhöhten ethischen Leistungsansprüchen, wie mit immer mehr Arbeit klar zu kommen, auszusteigen.

Das ist für die meisten eine sehr ungewohnte Erfahrung und braucht einige Zeit, bis sich erschöpfte Ärzt:innen mit einem Burnout die innere Erlaubnis geben, sich nun um ihr eigenes Wohlergehen zu kümmern. Aufkommende Selbstvorwürfe und Selbstabwertungen sowie Schuldgefühle müssen zunächst wahrgenommen werden, um dann im psychotherapeutischen Kontext bearbeitet werden zu können. Wenn diese ersten Schritte geschafft sind, behandeln wir Ärzt:innen einerseits mit spezifischen psychotherapeutischen Interventionen mit Fokus darauf, tief verwurzelte Muster zu erkennen, zu würdigen und diese auf den Prüfstand zu stellen. Neue, für ihre Lebenssituation passendere und ihr Wesen gemäßere Muster zu entwickeln, die insbesondere auch darauf abzielen, eine gute emotionale Kompetenz mit der Fähigkeit zur leistungsunabhängigen Selbstannahme und zum Selbstschutz zu entwickeln.

Wie setzen Sie das im Gezeiten Haus um?

Sie sprachen eben von spezifischen psychotherapeutischen Interventionen, welche Sie anwenden um den Ärzt:innen zu helfen. Können Sie dies konkretisieren und etwas genauer erläutern, was man sich darunter vorstellen kann?

Boehle: Im Gezeiten Haus Bonn bieten wir eine ganzheitliche, sogenannte multimodale psychosomatische Komplexbehandlung an, die neben den beschriebenen psychotherapeutischen Interventionen insbesondere auch die körperliche Ebene miteinbezieht unter anderem auch durch Behandlungsansätze aus der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wie QiGong, die chinesische Heilmassage Tuina und Akupunktur, die gleichermaßen auf die Wiederherstellung einer energetischen Balance des ganzen Menschen setzt. Weitere zentrale Bestandteile wie Achtsamkeitsübungen und Entspannungsverfahren, kreativtherapeutische wie systemische Therapieelemente kommen im Rahmen einer haltgebenden Tagesstrukturierung und einer Geborgenheit stiftenden therapeutischen Gemeinschaft zum Einsatz.

Im weiteren Verlauf wird gemeinsam, auch auf die mitverursachenden und aufrechterhaltenden äußeren arbeitsplatzbezogenen Faktoren des Burnouts geschaut. Es werden individuelle Strategien erarbeitet, wie in den jeweiligen Arbeitssituationen partielle Entlastungen geschaffen werden können oder ob gar ein Wechsel des Arbeitskontextes zur Gewährleistung eines ärztlichen Engagements in Wahrung der eigenen Gesundheit notwendig erscheint.

Abschließend ist zur Prävention von Burnout Entwicklungen bei Ärzt:innen zu betonen, dass bezüglich der inneren persönlichkeitsbedingten Faktoren im Studium und der Facharztweiterbildung besonderer Wert auf die Vermittlung und Entwicklung emotionaler Kompetenz gelegt werden sollte. Im weiteren Berufsleben können zum Beispiel Balintgruppen zur Besprechung persönlich schwieriger Herausforderungen genutzt werden.

Die Beeinflussung der äußeren arbeitsplatzbezogenen Faktoren ist neben der Gesundheitspolitik im Wesentlichen Führungsaufgabe von leitenden Ärzt:innen. Klarheit in der Kommunikation, Transparenz in der Organisation sowie Wertschätzung und Unterstützung beim Selbstschutz im Umgang mit anvertrauten Mitarbeitenden sollte als ein wesentlicher Teil ihrer Führungsverantwortung anerkannt und umgesetzut werden. In dieser Weise geförderte Ärzt:innen sind nicht nur gesünder und sondern auch leistungsfähiger und dabei insbesondere in der authentischen Kommunikation mit ihren Patient:innen kompetenter. Dies erhöht auch auf lange Sicht die Qualität der medizinischen Versorgung und Zufriedenheit der Patient:innen. Eine Umsetzung solcher Konzepte der Mitarbeiterführung zur Burnout-Prävention haben sich seit 20 Jahren in unseren Gezeiten Haus Kliniken als realisierbar und effektiv bewährt.

Dr. med. Clemens Boehle ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Systemischer Paartherapeut sowie EMDR- und Hypnotherapeut. Seit 2009 ist er Chefarzt der Psychosomatischen Klinik für Burnout im Gezeiten Haus Bonn.


Vielen Dank für das Gespräch und die fachliche Expertise!


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