Musiktherapie bei psychischen Erkrankungen
Besonders in den Bereichen, in denen die Sprache an ihre Grenzen stößt, gehört die Musiktherapie mit ihren nonverbalen therapeutischen Möglichkeiten zu einer der bevorzugten Therapiemethoden. Gerade bei Krankheitsbildern wie Angststörungen, Autismus, Depressionen, Aphasie und Mutismus kann die Musiktherapie ein wertvolles Therapiewerkzeug sein, um Patienten auf der nonverbalen Ebene Zugang zu ihren Emotionen und ihrem Körperempfinden zu ermöglichen.
25.03.2024
LESEZEIT: 10 MINUTEN
KATEGORIE: PSYCHISCHE GESUNDHEIT, THERAPIE
Autorinnen: Christina Shamel und Mareike Penderock
Was ist Musiktherapie
Musik ist für den Menschen eine der kraftvollsten Ausdrucksformen. Musik erzeugt nicht nur Bewegung und Emotionen, sondern regt auch innerphysische Prozesse an. So assoziieren wir z. B. mit Mollakkorden automatisch Gefühle wie Traurigkeit und Schwere. Hören wir hingegen ein fröhliches Lied in Dur, wird der Teil unseres Gehirns aktiviert, der positive Glückshormone in uns ausschüttet.
Die Musiktherapie nutzt diese einzigartige Verbindung von Musik und Psyche, um therapeutische Ziele zu erreichen. Sie kann bei einer Vielzahl von psychischen Beschwerden eingesetzt werden und zielt darauf ab, das Wohlbefinden zu steigern. Ob Tempo, Harmonie oder Rhythmik – alle Teilbereiche der Musik eignen sich sehr gut für therapeutische Prozesse und übergreifende Therapieziele.
Ansätze in der Musiktherapie
In der Musiktherapie arbeiten Musiktherapeut:innen zusammen mit den Patient:innen im Einzel- oder Gruppensetting. In der aktiven Musiktherapie liegt der Fokus auf dem gemeinsamen Musizieren. Instrumente werden ausprobiert und als Gruppe mit Melodien, Tempo und Rhythmus improvisiert. Ganz ohne musikalisches Hintergrundwissen oder Vorerfahrung entwickelt sich während der Session automatisch eine musikalische Dynamik, an dessen Rhythmus sich die Musizierenden anpassen.
Die rezeptive Musiktherapie hingegen beinhaltet das aktive Hören von Musik. Hierbei werden Erinnerungen und Assoziationen wachgerufen. Nach dem gemeinsamen Hören sprechen Therapeut:in und Klient:in über entstandene Gefühle, Körperwahrnehmungen und bildhafte Vorstellungen. Auch hier werden weiterführende therapeutische Prozesse angestoßen. Diese Methode eignet sich vor allem zur Stimulation oder Entspannung.
Anwendungsgebiete von Musiktherapie
Die Musiktherapie kommt als Einzel- oder Gruppentherapie sowohl in der Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse und der humanistischen Psychologie zum Einsatz. Ob bei Depressionen oder neurologischen Störungen: Die Musiktherapie wird nicht nur in der Psychotherapie eingesetzt. Sie kommt in einer Vielzahl von Kontexten zum Einsatz. Sowohl Krankenhäusern, Schulen als auch Rehabilitationseinrichtungen und Altenheimen setzen Musiktherapie für ihre therapeutischen Zwecke ein.
Instrumente in der Musiktherapie
Ob Rasseln, Klanghölzer, Trommeln oder Tambourin: Der Bandbreite der Instrumente sind in der Musiktherapie keine Grenzen gesetzt.
Mit Percussioninstrumenten können musikalische Sessions entstehen, die die eigene Dynamik der Therapiegruppe aufgreifen. Zur Auswahl stehen auch eher unbekannte Instrumente wie beispielsweise Djembe, Regenmacher oder Kalimba. Gerade neue Instrumente laden zum Experimentieren ein und fördern die Kreativität der Patient:innen. Das Instrumentarium in der Musiktherapie umfasst neben den klassischen europäischen Instrumenten Gitarre, Klavier und Flöte vor allem Instrumente, die jeder ohne Knowhow spielen kann.
Auch spezielle Instrumente, die extra zur Entspannung oder zu therapeutischen Zwecken entwickelt worden sind, kommen in der Musiktherapie zum Einsatz: Dazu zählen unter anderem das Oceandrum, Klangschalen, Steeldrum oder Koshis.
Ziele der Musiktherapie
Zur Verbesserung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit, der Bewältigung von Traumata oder zum Stressabbau – die Musiktherapie kann ganz unterschiedliche und individuelle therapeutische Ziele verfolgen. So kann sie bei Stressfolgeerkrankungen gezielt als Entspannungsmethode eingesetzt werden oder Patient:innen mit sozialen Interaktionsstörungen dabei unterstützen, sich innerhalb der Gruppe auszuprobieren, soziale Ängste abzubauen und Kommunikationsstrategien, die im Einzelgespräch erörtert wurden, direkt im Live-Umfeld auszuprobieren.
Im Kontext psychischer Erkrankungen verfolgt die Musiktherapie mehrere Ziele:
Emotionale Regulation
Musik kann helfen, Emotionen zu identifizieren, auszudrücken und zu regulieren. Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen können Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen angemessen zu verarbeiten. Die Musiktherapie bietet einen sicheren Raum, um Emotionen auszudrücken und zu verarbeiten.
Verbesserung der sozialen Fähigkeiten
Viele psychische Erkrankungen können mit Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion einhergehen. Durch Gruppenmusiktherapie können Menschen lernen, in einer sozialen Umgebung zu interagieren, sich auszudrücken und Verbindungen zu anderen herzustellen.
Stressabbau und Entspannung
Musik kann eine beruhigende und stressabbauende Wirkung haben. Menschen mit psychischen Erkrankungen können von der Nutzung von Musik als Mittel zur Entspannung und Stressbewältigung profitieren. Dies kann helfen, Symptome wie Angst und Spannung zu reduzieren.
Förderung der Selbstwahrnehmung und des Selbstausdrucks
Musiktherapie bietet eine kreative Möglichkeit, die Selbstwahrnehmung und den Selbstausdruck zu fördern. Durch das Musizieren, Singen oder Improvisieren können Menschen ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen auf nonverbale Weise ausdrücken und erkunden.
Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten
Musiktherapie kann auch dazu beitragen, kognitive Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis und Problemlösung zu verbessern. Dies kann besonders relevant sein für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die auch kognitive Beeinträchtigungen aufweisen, wie z. B. bei Schizophrenie oder Demenz.
Für wen sich Musiktherapie eignet
Die Musiktherapie steht als integrative Therapiemethode nicht nur auf dem Behandlungsplan von bereits musikaffinen Patient:innen. Denn in der Musiktherapie geht es nicht um den perfekten Klang oder virtuose Fähigkeiten. Im Vordergrund steht das gemeinsame Erleben von Musik - auch ohne musikalische Erfahrung mit klassischen Instrumenten – das individuelle Empfinden und in den Körper hineinschauen.
„Viele Patient:innen haben Hemmungen, klassische europäische Instrumente zu spielen, da sie der Meinung sind, sie ohne Unterricht gehabt zu haben, nicht spielen zu können. Hingegen haben Instrumente wie Trommeln, Rasseleier, Xylophon oder Klanghölzer eine niedrigere Hemmschwelle. Unerfahrene, schüchterne Patient:innen entscheiden sich eher für leisere Instrumente, wie z.B. Rasseleier, Klangschalen oder Stahlzungentrommel. Etwas mutigere Jugendliche greifen auch gerne zur Djembe, Rahmentrommel oder zum Schlagzeug“, erklärt Christina Shamel, Musiktherapeutin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Gezeiten Haus Schloss Eichholz.
„Die Jugendlichen, die hier im Gezeiten Haus in meine Therapie kommen, sind anfänglich oft sehr skeptisch. Viele denken, es wäre eine Art Musikunterricht und erwarten beurteilt zu werden oder dass man ihnen Leistung abverlangt. Doch ich erkläre ihnen direkt zu Beginn - und lasse sie spüren – dass es sich in der Musiktherapie absolut nicht um eine Form von Unterricht handelt.“ Auch das kann Musiktherapie: einen Beitrag zu mehr Achtsamkeit leisten.
Wirkung von Musiktherapie
Die Wirkung von Musiktherapie ist vielfältig: Sie kann entspannend wirken, Schmerzen lindern, Stress reduzieren und die Kommunikation fördern. Kurz gesagt, Musiktherapie ist ein vielseitiges therapeutisches Instrument, das Körper und Seele harmonisieren kann. Musik löst in den meisten Menschen etwas Emotionales aus. Mit der Hilfe von Musik bauen wir Stress ab, sie wirkt beruhigend und löst die unterschiedlichsten Empfindungen aus.
Wie der französische Schriftsteller Victor Hugo einst sagte: „Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Dem stimmt Christina Shamel aus ihrem Alltagserleben zu: „Einer der schönsten Momente ist, wenn Patient:innen, die anfänglich blockiert und ablehnend oder auch ängstlich und unsicher waren, mit der Zeit Vertrauen gewinnen und es am Ende des Aufenthaltes schaffen, selbstbewusst und laut zu singen oder zu musizieren. In diesen Momenten spüre ich, wie gut wir als Team multimodal zusammenarbeiten und was nicht nur meine Musiktherapie, sondern unsere gemeinsame Arbeit bewirken kann.“
Wissenschaft belegt Wirksamkeit von Musiktherapie
Auch aus wissenschaftlicher Sicht werden musiktherapeutische Angebote als wirkungsvolle Methode anerkannt, die als integrale Begleittherapie Menschen mit psychischen Erkrankungen nachhaltig helfen kann. Die Forschung liefert immer neue Belege dafür. Eine Studie des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik belegt, dass Musik Menschen hilft, besser durch Krisen wie z. B. die Corona-Pandemie zu kommen. Während des 1. Lockdowns von April bis Mai 2020 wurden über 5000 Menschen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Indien und den USA zu ihrem Umgang mit Musik in der Krise befragt. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer:innen gab an, Musik zur Bewältigung emotionaler und sozialer Stressfaktoren zu verwenden. Dabei setzten Menschen mit pandemiebedingten negativen Emotionen Musikhören in erster Linie zur Regulierung von Depressionen, Angst und Stress ein. Eher positiv gestimmte Menschen nutzten Musik hingegen als Ersatz für soziale Interaktion. Sowohl beim gemeinsamen Musikhören als auch beim Musizieren verspüren sie ein Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft.