Dissoziative Störungen im Fokus des Traumafachtag 2024

Am 31.05.2024 fand der Fachtag „Fraktale des Inneren – therapeutisches Arbeiten mit dissoziativen Störungen" im Gezeiten Haus Schloss Eichholz mit über 100 geladenen Gästen statt.

Unter dem Titel „Fraktale des Inneren – therapeutisches Arbeiten mit dissoziativen Störungen" widmete sich der Traumafachtag am 31.05.2024 dem Behandlungsfeld der dissoziativen Identitätsstörung. In drei Fachvorträgen gingen die Referent:innen auf die Besonderheiten von dissoziativen Identitätsstörungen in der Theorie und Praxis ein und gaben wertvolle Einblicke in ihr Erfahrungsspektrum mit dissoziativen Patient:innen aus dem Klinik- und Praxisalltag.

Interaktive Vorträge sorgten für begeisterte Teilnehmer

Zum diesjährigen Fachtag konnten wir über 100 geladene Gäste im Gezeiten Haus auf Schloss Eichholz begrüßen, um mit ihnen gemeinsam mehr zur Theorie und Praxis der dissoziativen Identitätsstörungen zu erfahren. Feierlich eröffnet wurde der Fachtag von Dr. Susanne Altmeyer, Chefärztin der Traumaklinik auf Schloss Eichholz, die zu Beginn die Notwendigkeit der Weiterentwicklung im Umgang mit dem Phänomen der dissoziativen Störungen betonte.

Mit dem Traumafachtag 2024 gaben wir einen tiefen Einblick in die Theorie und Praxis bei der Behandlung von dissoziativen Störungen, sprachen über therapeutische Leitlinien und mögliche Strategien für sinnvolles Arbeiten mit dissoziativen Störungen. Die Teilnehmer erlebten ein breites Spektrum an interessanten Fachvorträgen, leckeren Köstlichkeiten aus der Schlossküche und genügend Zeit zum kollegialen Austausch und Netzwerken.

Diagnostik von dissoziativen Störungen | Dr. med. Jan Gysi

„Was verbindet die Toblerone mit dissoziativen Störungen?“ Mit dieser Eingangsfrage eröffnete Dr. med. Jan Gysi den Traumafachtag und weckte damit sofort das Interesse aller Teilnehmenden. Beginnend mit der differenzierten Unterteilung der dissoziativen Störung in die Bereiche Kompartmentalisierung und Detachment, erläuterte er die grundlegenden Unterschiede zwischen einer Dissoziative Identitätsstörung (DIS) und einer Depersonalisation/Derealisation.

Denn vor allem hier liegen erste Fallstricke, die in der Diagnostik dazuführen können, dass eine Störung leicht übersehen wird. Gerade bei der aussagenpsychologischen Begutachtung einer peritraumatischen Dissoziation, wird das Erleben und Berichten der Betroffenen oft als Unwahrheit fehlinterpretiert. Unterstützt durch Milena Zundel, Oberärztin der Traumaklinik im Gezeiten Haus, veranschaulicht er interaktiv die Komplexität der inneren Fraktale der Betroffenen und geht auf die Gedanken- und Empfindungswelt Betroffener ein.

 

Eine DIS kommt selten allein

In der Differentialdiagnostik sind komorbide Erkrankungen wie Angst- und Panikstörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder auch dissoziativ-neurologische Symptomstörungen bei Patient:innen mit DIS häufig zu beobachten. „Chronisch nicht zu fühlen ist anstrengend.“, sagt Dr. Jan Gysi und schlüsselt im zweiten Teil des Vortrags die verschiedenen Symptome und Empfindungszustände, die klassischerweise von Patient:innen mit DIS geäußert auf. Amnestische Zustände gehören dabei unbedingt genauer betrachtet, um eine dissoziative Identitätsstörung (DIS) von einer Depersonalisation/Derealisation zu unterscheiden. Die Abklärungsfragen zu den Kernaspekten einer sicheren Bindung können zusätzlich weiter Aufschluss geben.

 

Ego-State oder dissoziative Identität?

Abschließend ging Dr. Jan Gysi auf das Spektrum von Ego-States und dissoziativen Identitäten ein. Insbesondere die Kernmerkmale der Darstellung verschiedener Persönlichkeitszustände, das Vorhandensein oder Fehlen der exekutiven Kontrolle und das Ausmaß von Amnesien während dissoziativen Handelns geben weiter Aufschluss bei der Unterscheidung zwischen einer partiellen dissoziativen Störung (PDIS) oder einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS). In einer interaktiven Darstellung mit Milena Zundel verdeutlichte er die verschiedenen Persönlichkeitszustände und klärte somit die Frage, ab wann und bei welchen teil- bzw. volldissoziierten Handlungen eine dissoziative Identitätsstörung vorliegen kann.

Dissoziative Identitätsstörung | Dr. med. Ursula Gast

Wenn die Fraktale des Inneren und des Äußeren nicht mehr ineinandergreifen und die Bewältigung des Alltags zunehmend zur Herausforderung wird, könnte eine dissoziative Identitätsstörung vorliegen. Frau Dr. med. Ursula Gast, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erläuterte dem Publikum in ihrem Vortrag die Herausforderungen der dissoziativen Identitätsstörung.

Beginnend mit charakteristischen Patientenaussagen wie „Das bin nicht ich.“ und anschaulichen Beispielen aus dem Praxisalltag schaffte Dr. med. Ursula Gast einen authentischen Einstieg in das komplexe Thema, wodurch der Vortrag von Klarheit und Verständnis geprägt war. Das Störungsbild in seiner Gesamtheit zu verstehen, erfordert ein strukturiertes und behutsames Vorgehen in der Diagnostik.

In über 90% der Fälle sind sich die Betroffenen selbst nicht über die Anteile bewusst und spüren aufgrund dessen einen hohen Leidensdruck, welcher sich häufig in Form von Alltagsamnesien und Problemen in interaktionalen Beziehungen äußert. Dadurch wird auch der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum/zur Therapeut:in erschwert, wodurch das Behandlungsverhältnis oftmals von großem Misstrauen seitens der betroffenen Person geprägt wird.

 

Therapeutisches Fingerspitzengefühl gefragt

Da dissoziative Störungen in der Regel in Folge von traumatischen Erfahrungen wie zum Beispiel nach sexuellem Missbrauch oder Vernachlässigung auftreten, welche sich im frühkindlichen Alter ereignet haben, ist eine umfangreiche Anamnese notwendig. Um schlussendlich die richtige Diagnose gemäß ICD-11 stellen zu können, ist eine genaue Differenzierung und die Zuhilfenahme von Leit- und Richtlinien ratsam, um falsch negative Diagnosen zu vermeiden.

Nach der Übermittlung der Diagnose an die betroffene Person ist häufig eine große Ambivalenz zwischen Angst, Scham und Sorge sowie dem Gefühl „endlich gesehen zu werden“ zu erkennen. Der therapeutische Umgang mit dieser Gefühlslage der Person und dem vielschichtigen Krankheitsbild erfordert ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl, Empathie und Einfühlsamkeit, welches Dr. Ursula Gast den Zuhörenden in ihrem Vortrag erfolgreich vermittelte.

Die Arbeit mit inneren Fraktalen in der Praxis | Milena Zundel und Stefanie Rambau

Einen spannenden Einblick in den therapeutischen Alltag mit Betroffenen einer dissoziativen Identitätsstörung gaben die Leitende Psychologin Stefanie Rambau und die Leitende Oberärztin Milena Zundel der Traumaklinik im Gezeiten Haus Schloss Eichholz. Dazu gingen die Referentinnen im ersten Teil ihres Vortrages auf das besondere traumatherapeutische Konzept der Klinik ein, um den Teilnehmenden einen grundlegenden Einblick darüber zugeben, was die Arbeit mit dissoziativen Patient*innen im Speziellen bedeutet. Viele anschauliche Fallbeispiele machten die therapeutische Arbeit greifbarer und weckten das Interesse des Publikums.

 

"Wir arbeiten nicht aufdeckend"

Direkt zu Beginn verdeutlicht Stefanie Rambau: „Wir arbeiten in der Traumaklinik nicht aufdeckend, sondern explorieren vorsichtig, was sich zeigt.“ Ihrer Erfahrung nach äußert sich der Leidensdruck von dissoziativen Patienten bei Behandlungsbeginn zunächst durch Sekundär- und Folgesymptome wie Depression, Angst/Panik, Selbstverletzung oder auch Essstörungen. Erst während des therapeutischen Beziehungsaufbaus können sich bewusstseinsfernere oder schambesetzte dissoziative Symptome zeigen, sodass andere Persönlichkeitszustände erst offensichtlich werden.

Alle Mitarbeitenden folgen dabei klaren Prinzipien bei der Begleitung ihrer Patienten: Ressourcenorientiert, hypothesengeleitet, ergebnisoffen und immer in der Annahme eines guten Grundes. Das bedeutet im Umkehrschluss besondere Herausforderungen für das interdisziplinäre Team bei der Betreuung und Versorgung der Patienten im stationären Setting – vor allem bezüglich dissoziativer Symptome, Persönlichkeitswechsel und Fugue-Episoden. Dazu sind alle Pflegefachkräfte vielfach weitergebildet – alle psychotherapeutisch tätigen Mitarbeitenden sind EMDR-geschult und tauschen sich bei hochfrequenter interner und externer Supervision aus.

Milena Zundel geht zusätzlich noch auf die gemeinsam entwickelte Behandlungsmaxime der Mitarbeitenden ein: „Wir begleiten unsere Patienten auf ihrem Weg und geben ihnen den Raum für Wachstum und Veränderung. Wir sehen uns dabei als Unterstützer, um gute eigene Lösungen zu finden.“

 

Dissoziative Störungen im Klinikalltag

Die Referentinnen erläutern gemeinsam, was sich im Rahmen des stationären Settings besonders bemerkbar macht und gehen dabei auf amnestische Verhaltensweisen, Orientierungsstörungen und das Bild eines Persönlichkeitswechsels ein. Dabei geben sie aktiv Einblicke und Empfehlungen zur praktisch-therapeutische Arbeit im Einzelsetting durch gezielte Exploration und Diagnostik. Hier kann das Antwort- und Kontaktverhalten ein hilfreicher Indikator sein:  Sieht die Patient*in so aus, als ob er/sie „nach innen horcht“? Sind Widersprüche, Verkennungen oder Verwirrungen zu beobachten? Ist die Antwortlatenz auffällig?

Abschließend ihres Vortrags erklärten sie ein beispielhaftes Vorgehen bei einer Traumakonfrontation mit EMDR und beantworteten abschließend  in einem Rollenspiel die Frage, wie eine Traumakonfrontation sanft angeleitet werden kann. 

Stefanie Rambau und Milena Zundel gaben dem Publikum einen offenen Einblick in ihre langjährige Erfahrung aus dem therapeutischen Alltag mit dissoziativen Patient*innen. Als runden Abschluss des Vortrags nahm sich Milena Zundel Zeit für Fragen aus dem Publikum, bevor Dr. Susanne Altmeyer zum Ausklang des Abends auf der Schlossempore einlud.

 

Save the date | 13.11.2024

Der nächste Fachtag findet in der Gezeiten Haus Klinik Bonn am 13.11.2024 statt. Der Fokus wird auf der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Therapie bei Depressionen gehen. Alle Abonennten unseres Newsletters für Einweiser erhalten die Einladung exklusiv.

Das könnte Sie auch interessieren