Klinik als Ort der Chance auf Heilung

Interview mit Dr. André Kümmel, Leitender Oberarzt im Gezeiten Haus Bonn

11.10.2023

LESEZEIT: 2 MINUTEN

KATEGORIE: INTERVIEW, ANGSTSTÖRUNG

 

Die Woche der seelischen Gesundheit setzt sich mit der Fragestellung „Ängste in Krisenzeiten auseinander". Wie wir als Gezeiten Haus Klinik in Bonn im Falle einer Angststörung zu einem Ort der Chance auf Heilung werden, erläutert uns Dr. André Kümmel, Leitender Oberarzt, in einem Interview

 

Was hat das diesjährige Motto der Woche der seelischen Gesundheit mit Ihrer täglichen Arbeit zu tun?

Kümmel: Natürlich kann ich persönlich die globale Krise nicht lösen und wir alle müssen im derzeitigen Alltag mit vielen Unsicherheiten leben. Aber ich kann im Rahmen meiner Aufgabe als Arzt und Therapeut und als Teil des gesamten Teams im Gezeiten Haus Bonn dazu beitragen, den Menschen zu helfen, die mit einer sog. Angststörung zu uns kommen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Angst aufgrund der globalen Krise oder einem persönlichen Ereignis ausgelöst wurde.

Wann sprechen wir von einer Angststörung?

Kümmel:
Dazu möchte ich ein wenig ausholen, um zu erläutern, was es mit der Angst auf sich hat. Angst ist zwar unangenehm, jedoch biologisch und soziologisch eine wichtige Emotion. Sie ist ein natürliches Gefühl, das uns im Normalfall vor Gefahren und Bedrohungen warnt und schützt. Durch das Angstgefühl wird unser Körper in Alarmbereitschaft versetzt und wir beginnen, die Gefahr einer Situation und unsere Handlungsoptionen abzuwägen, um geeignete Reaktionen zu entwickeln. Das können dann sehr spontane und schnelle Reaktionen sein wie z.B. Flucht oder Angriff, aber auch komplexere Lösungsstrategien wie z.B. intensives Vorbereiten auf eine Prüfung, um Prüfungsängste zu vermindern. Ist die bedrohliche Situation vorbei, verschwindet auch das Angstgefühl. Im Kontext der globalen Krise könnte man daher sagen, dass Angst hier einen gewissen Sinn hat, da sie uns auch zu Veränderungen animiert. Nehmen wir als Beispiel die Menschen, die aus Angst vor dem Krieg aus Ihrem Land fliehen, um ihr Leben zu retten. 
Anders verhält es sich bei einer Angststörung. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Angstreaktion entsteht, auch wenn eigentlich keine Gefahr besteht, also in einer Situation, in der die Angstreaktion der Situation nicht angemessen ist. Sie steht in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. Betroffene erleben diese Angst jedoch körperlich und psychisch sehr intensiv. Obwohl sie unter Umständen erkennen, dass ihre Angst unbegründet ist, sind sie nicht in der Lage, sie auszuschalten oder zu kontrollieren.

Wie entstehen solche Angststörungen überhaupt?

Kümmel:Dazu gibt es Vermutungen, die besagen, dass verschiedene Faktoren dabei zusammenspielen, eine einfache Erklärung gibt es derzeit aus meiner Sicht dazu jedoch nicht. Mögliche Entstehungsfaktoren, die dazu beitragen können, sind zum Beispiel einschneidende Lebensereignisse in der Vergangenheit, Belastungen und Stresserleben im Zusammensein mit anderen Menschen, falsch verinnerlichte Verhaltensweisen, körperliche Faktoren wie ein Ungleichgewicht spezieller Botenstoffe im Gehirn oder auch Erbanlagen.

Wann treten Angststörungen auf?

Kümmel:Solche Angsterlebnisse können jederzeit und immer wieder auftreten. Das kann unabhängig von Situationen passieren oder aber genau aufgrund konkreter Situationen oder spezieller Orte.

Was passiert mit Betroffenen?

Kümmel: Meiner Erfahrung nach versuchen Menschen mit Angststörungen diese auslösenden Situationen zu vermeiden. Dies kann im Extremfall bis hin zum völligen Rückzug der Betroffenen führen, die daraufhin auch nicht mehr arbeitsfähig sind. Häufig kommen wir als Klinik dann erst ins Spiel, da die Belastung durch die Angststörung zu groß geworden ist, um den Alltag noch ohne Hilfe bewältigen zu können und die Lebensqualität sehr beeinträchtigt ist.

Welche Formen von Angststörungen gibt es und behandeln Sie im Gezeiten Haus alle Ausprägungen?

Kümmel: Wir unterscheiden hier zwischen Angststörung mit Auslöser (Phobie) und ohne konkreten Auslöser.

Ein bekanntes Beispiel für eine Phobie ist die Agoraphobie (auch Platzangst genannt), diese Menschen haben Angst vor öffentlichen Plätzen und Menschenansammlungen. Dann wären da noch die Spinnenangst, Spritzenangst und die Flugangst. Bei einer sozialen Phobie haben die Betroffenen Angst selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und von anderen Menschen negativ beurteilt zu werden.

Zu den Angststörungen ohne erkennbaren Auslöser gehören die Panikstörungen. Panikattacken können anfallsartig auftreten und von hefigen Körperreaktionen begleitet werden wie z.B. Herzrasen, Atemnot, Schwindel, Schweißausbrüche etc.. Und nicht zuletzt gibt es auch noch generalisierte Angststörungen. Die generalisierte Angststörung wird auch „Sorgenkrankheit“ genannt, die Betroffenen leben in der beständigen Angst ihnen selbst oder ihren Angehörigen könne etwas sehr schlimmes Zustoßen.

Und ja, wir behandeln im Gezeiten Haus alle möglichen Formen der Angststörung, sie gehören zu unserem allgemeinen Behandlungsspektrum.

Wie können Sie diesen Betroffenen genau helfen?

Kümmel: Wir behandeln die Angststörungen mit intensiver Psychotherapie, dem Erlernen von Entspannungsverfahren und ggf. auch durch Medikamente, die gegen die Angst wirksam sind. Bei schweren Angststörungen ist es für die Betroffenen von großer Wichtigkeit, dass sie in der Klinik rund um die Uhr kompetente Hilfe bekommen. Da die Patient*innen ihre Ängste zunächst nicht selber regulieren und beenden können, benötigen sie intensive Unterstützung durch unser Fachpersonal. Schrittweise erlernen die Patient*innen dann ihre Ängste besser zu regulieren und zu vermindern. Nach der ersten Behandlungsphase arbeiten wir auch mit der Methode der Angstexpositionstherapie. Hierbei werden mit therapeutischer Hilfe Aktivitäten eingeübt, die zuvor aus Angst vermieden wurden. Im Rahmen der Expositionsübungen lernen die Patient*innen z.B. wieder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, vor anderen Menschen zu reden oder einen Fahrstuhl zu betreten.

Die Aktionswoche möchte ein Zeichen setzen gegen Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen und zur Entstigmatisierung beitragen. Was muss Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft geschehen, um mehr Akzeptanz und Offenheit für das Thema zu erreichen?

Kümmel: Psychische Erkrankungen sind auch heute noch häufig ein Tabuthema und werden von den Betroffenen deshalb verschwiegen. Dabei zeigen z.B.  die aktuellen Daten des Robert-Koch-Instituts, dass mehr als 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland an einer Angststörung leidet. Psychische Erkrankungen sind häufig, es handelt sich in wahrsten Sinne des Wortes um Volkskrankheiten. Entgegen altmodischer Vorurteile sind psychische Erkrankungen sehr gut zu behandeln. Um eine bestmögliche Behandlung zu erreichen, ist eine Entstigmatisierung dringend nötig. Stigmatisierung und Vorurteile führen nur zu einem Verschweigen der eigenen Probleme und zu immer stärkerem Vermeidungsverhalten. Die Betroffenen benötigen einen wohlwollenden Blick auf sich selber und ein unterstützendes soziales Umfeld. Es sollte Normalität sein, sich bei psychischen Erkrankungen psychotherapeutische Hilfe zu holen und sich wegen seiner Erkrankung nicht schämen zu müssen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Hintergrundinformationen: Dr. André Kümmel ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Facharzt für Neurologie und seit über zehn Jahren im Gezeiten Haus Bonn tätig.

 

 

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