Somatoforme Störungen im Fokus des Fachtag 2023 im Gezeiten Haus Bonn

Am 25.10.2023 fand der jährliche Fachtag im Gezeiten Haus Bonn zum Thema "Wenn die Seele schmerzt" statt.

Auch wenn es bereits zahlreiche ambulante Einrichtungen gibt, in denen EMDR mit Kindern und Jugendlichen praktiziert wird, so ist dies im klinischen Bereich doch bislang eher selten. Vor diesem Hintergrund betritt die Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Schloss Eichholz mit der Entscheidung, EMDR als Therapieform bei Kindern und Jugendlichen anzuwenden, Neuland. Ab Juni 2023 gehört EMDR zum festen Bestandteil des Therapieplans der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Schloss Eichholz.

Die Begrüßung aller Teilnehmer*innen erfolgte durch den Leitenden Oberarzt André Kümmel, der in Vertretung für Chefarzt Dr. Clemens Boehle, der leider spontan verhindert war, in das Programm des Nachmittags einführte.

Das Fachpuplikum aus Ärzten und Psychotherapeuten konnte an diesen Nachmittag zwei Expertenvorträge und einen Live Podcast erleben.

Körper, Schmerz und pathogene Erinnerungen – der therapeutische Nutzen von EMDR

Peter Liebermann ist Facharzt für Psychiatrie, EMDR-Trainer, Gründungsmitglied von EMDRIA Deutschland sowie Mitgründer der DeGPT. Als ausgewiesener Experte seines Fachs liegt sein Schwerpunkt in der Behandlung akuter und komplexer Traumafolgestörungen.
In seinem Vortrag ging er der Frage nach, wie Trauma und Schmerz zusammenhängen und was die Entwicklung von Schmerzstörungen begünstige und dass es durch EMDR neue Blickwinkel auf Störungsbilder gebe. So berichtete er anhand mehrerer Fallbeispiele aus seiner Praxis, wie wichtig es sei, einen anderen Zugang zum eigenen Körper und den darin stattfindenden Vorgängen zu bekommen sowie einen anderen Umgang mit Erlebnissen zu entwickeln. Dazu nutze er EMDR und er sei gerade durch die erfolgreiche Bearbeitung pathogener Erinnerungen in vielen Fällen darin bestätigt worden. Gleichzeitig betonte er jedoch, wie komplex und vielschichtig der Zusammenhang von Trauma und Schmerz sei und dass es keine uniforme Theorie dazu gebe, wie dieser Zusammenhang beschrieben werden könne.

Liebermann zitierte weitere Studien aus den Niederlanden, Iran und Mexiko zur Anwendung von EMDR bei Schmerzpatienten, die zum Teil von spektakulären Erfolgen in der Behandlung rheumatoider Arthritis, Phantomschmerzen, Vaginismus und Fibromyalgie berichteten. Anschließend beschrieb er den Behandlungsplan, der sich im Wesentlichen auf das 8-phasige EMDR-Standardprotokoll beziehe, wobei er erwähnte, dass jeweils angepasste Modifikationen sinnvoll sein können.

Sein Fazit lautete daher: Da EMDR einen direkten Effekt auf die Reduktion des Schmerzes habe und auch bestehende komorbide Symptome verbessere, sei der Einsatz von EMDR immer einen Versuch wert! EMDR sei ein transdiagnostischer psychotherapeutischer Ansatz, wenngleich nicht alle Patient*innen profitierten. Voraussetzungen beim Patienten für die Anwendung gebe es keine, essenziell für den Erfolg der Behandlung sei die therapeutische Beziehung!

 

Like a sich eagle – neues in der ICD-11 zu den somatoformen Störungen

Dr. Michael Langenbach, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytiker und Privat-Dozent ging in seinem Beitrag auf die aktuellen Entwicklungen in Bezug auf somatoforme Störungen in der am 01.01.2022 in Kraft getretenen und neuen Internationalen Klassifikation von Krankheiten in der ICD-11 ein. Was verbirgt sich hinter der neuen Version, für Psych-Fächer? Das war die Frage, der sich Langenbach widmete. Er wandte dabei ein, dass es voraussichtlich eine längerfristige Übergangsphase geben wird, in der ICD-10 und ICD-11 parallel genutzt werden müssten, bis eine verbindliche deutsche Version im Netz verfügbar sei. Ziel sei u.a. eine Harmonisierung mit DSM-5, Lebensspannenübergreifend.

Von großem Vorteil sei, dass nach ca. 30 Jahren ICD-10 endlich eine breitere Sensitivität der Konzepte möglich werde. Außerdem sei eine grundlegende Änderung in der Architektur des Klassifikationssystems vorgenommen worden. So wurde z.B. das vertraute „F“ verabschiedet, mit dem bislang psychische Störungen kodiert wurden. Psychische Störungen gehören zukünftig in der ICD-11 zu Kapitel 6 und ihre Kodierungen beginnen daher auch mit einer „6“. Statt der Verwendung einzelner ICD-10-Codes werden nun in der ICD-11 Stammcodes eingeführt. Insgesamt diene die Veränderung der Optimierung mit dem Ziel einer größeren Genauigkeit bei der Erfassung. Außerdem seien wichtige Ergänzungen zeitgemäßer Erfordernisse darin umgesetzt.
Anschaulich referierte er darüber, welche Vorteile es mit der neu eingeführten Diagnose der vier Varianten der Körper-Stress-Störung (6C20) und der Körper-Integritäts-Identitätsstörung (6C21) auf sich habe. Dabei stellte er heraus, dass es große Überschneidungen mit der somatischen Belastungsstörung im DSM-5 gebe und die „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ der ICD-10 (F45.40) ersetze. Die ätiologische Frage (somatisch oder psychisch) trete hier gegenüber dem Grad der Belastung und der psychosozialen Folgen der Symptomatik in den Hintergrund.
Auf die Psychodynamik der Körper-Stress-Störung ging er genauer ein und stellte die drei psychodynamischen Domänen: Bindungssystem, Mentalisierungsfähigkeit und Epistemisches Vertrauen (nach Luyten & Fonagy 2020) dar, die er abschießend mit einem besonderen Fallbeispiel aus seiner Praxis konkretisierte.

 

Die Botschaft des Königs – der Umgang mit Schmerz in westlicher Psychosomatik und Traditioneller Chinesischer Medizin

Der dritte Beitrag wurde in Form eines Live-Podcasts präsentiert. Drei langjährige Mitarbeiter des Gezeiten Hauses in Bonn stellten unter dem spannenden Titel „Die Botschaft des Königs“ östliche Sichtweisen zum Thema Schmerz vor. Ulf Krause, Leitender Oberarzt moderierte den Dialog mit den beiden TCM-Therapeuten Tao Lu und Bernhard Weiß. Sie sprachen gemeinsam über die entscheidende Rolle von Schmerz für die zentrale Regulation in unserem Organismus. Dazu erläuterte Tao Lu zunächst anhand der chinesischen Schriftzeichen für Schmerz und der Prinzipien von Yin und Yang, welches Verständnis von Schmerz der TCM zugrunde liege. Bernhard Weiß ergänzte dies mit der Darstellung des fünf Wandlungsphasen-Konzepts der TCM und betonte dabei, dass es immer um die Ganzheit gehe im biologischen Regulationssystem Mensch. Hierin sitze eine zentrale Instanz (König), die entscheide, ob und welcher Schmerz gesendet wird. Es handele sich dabei um eine sorgende und schützende Funktion, die einen Sinn erfülle. Demnach sei auch das Phänomen Schmerz positiv zu deuten. Mit einem dazu passenden Zitat in leichter Abwandlung des Originals von Descartes endete der lebendige Beitrag mit den Worten: „Ich schmerze, also bin ich!“
Als Klinik, die als wesentliche Behandlungssäule neben der klassischen Psychotherapie regelhaft körpertherapeutische Behandlungsangebote aus der Traditionellen Chinesischen Medizin macht, durften diese Perspektiven natürlich an diesem Nachmittag nicht fehlen. Wesentlich bei diesen Beiträgen war die Erweiterung des Horizonts hinsichtlich der Ursache und Funktion von Schmerz. Aufgrund der ganzheitlichen Erklärungsmodelle könne ein breiteres und umfassenderes Verständnis der Schmerzsymptomatik hergestellt werden. Dies ließe wiederum zusätzliche Therapiemethoden zu.

Den Abschluss des Fachtags bildete eine Zusammenfassung der vielfachen Erkenntnisse aus den Fachvorträgen durch André Kümmel, der sich für die zahlreichen, interessanten Fragen und den fachlichen Austausch beim Plenum bedankte.

Unser ausführliches Interview mit Peter Liebermann finden Sie hier.