EMDR entwickelt sich ständig weiter

Peter Liebermann im Interview zu den Entwicklungen der EMDR Therapie

19.01.2023

LESEZEIT: 3 MINUTEN

KATEGORIE: INTRVIEW,  EMDR-THERAPIE

 

Peter Liebermann ist einer der Mitbegründer des Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) in Deutschland. Der von der klinischen Psychologin Francine Shapiro Anfang der 1990er-Jahre entwickelte Ansatz basiert darauf, dass jeder Mensch über eine natürliche Fähigkeit zur Informationsverarbeitung verfügt, mit deren Hilfe er belastende Erfahrungen verarbeiten kann. Anlässlich des Fachtages sprachen wir mit Peter Liebermann über die verschiedenen Anwendungsbereiche von EMDR, zum Beispiel bei Stressfolgeerkrankungen und Depressionen.

EMDR – müssen wir etwas ändern?

Sie haben 2016 in einer Publikation die Frage gestellt: „25 Jahre EMDR – müssen wir etwas ändern?“
Während die Methode anfangs zur Bearbeitung traumatischer Erinnerungen eingesetzt wurde, ist das
Spektrum der Möglichkeiten heute immer größer geworden. Passt die Frage von damals noch?
Liebermann: Für mich ist EMDR ein transdiagnostischer Ansatz. Das heißt, es geht darum, ob es ein
spezielles Krankheitsbild oder eine bestimmte Störung gibt, bei der wir die Methode anwenden. Wir schauen dabei auf die Erfahrungen, die Menschen gemacht haben und die dazu geführt haben, dass sie das, was inder Vergangenheit war, heute nicht ausreichend distanziert erleben. Das bezeichnen wir als pathogene Erinnerungen. Neben traumatischen Erfahrungen können das auch Demütigungssituationen, Depressionen oder die Folgen von Stress und körperlichem Schmerz sein.
Wenn Sie zum Beispiel einmal in einer Prüfungssituation einen Blackout hatten, dann gehen Sie immer
wieder ängstlich an vergleichbare Situationen heran. Es kann dann durchaus passieren, dass die nächste Prüfung ebenfalls schwierig wird – und irgendwann haben Sie das Gefühl, keine Prüfungen mehr machen zu können. Sie entwickeln eine massive Prüfungsangst und möglicherweise sogar Panikattacken in prüfungsähnlichen Situationen. Das hat im Prinzip damit zu tun, dass Sie sich nicht ausreichend von der negativen Erfahrung, die Sie früher einmal gemacht haben, distanzieren konnten. Und genau hier setzen wir an.

Wie weit reicht das Spektrum von EMDR denn heute? Und wo stehen wir in Deutschland?

Ich glaube, was die offizielle Anwendung betrifft, sind wir sind in anderen Ländern deutlich
weiter als in Deutschland. Dort ist es schon länger üblich, EMDR bei Angststörungen, Depressionen und
vergleichbaren Krankheitsbildern einzusetzen. Inzwischen gibt es auch Studien zur Anwendung bei Tinnitus-Erkrankungen. Wir haben sehr viele Nachweise, dass EMDR in unterschiedlichsten Situationen hilfreich sein kann, um die entstandenen Negativerfahrungen wieder zu integrieren.
Wir haben in Deutschland ein sehr spezifisches System, um zu prüfen, wann ein therapeutischer Ansatz zum Einsatz kommt. Die Zahl der Anforderungen scheint mir dabei höher zu sein als in anderen Ländern. Das ist sicherlich ein Grund für die Situation, die ich eben beschrieb. Ein Beispiel ist das Thema der offiziellen Anerkennung im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da wurde lange Zeit diskutiert, dass die vorhandenen Studien die deutschen Kriterien nicht erfüllen, auch in diesem Bereich aber ist heute vieles in Bewegung gekommen. So hat beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation (WHO) konstatiert, dass EMDR und traumafokussierte Verhaltenstherapie die beiden einzigen Ansätze sind, die bei Kindern,Jugendlichen und Erwachsenen bedenkenlos eingesetzt werden können. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt unter anderem das Beispiel der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf Schloss Eichholz, die seit Juni 2023 mit der Methode arbeitet.

Was bedeutet diese Entwicklung – aus der Nische Traumatherapie zu „EMDR für alle“?

 Der Fokus bei EMDR liegt ja weniger in der Symptomatik, die Grundidee orientiert sich
vielmehr an den dahinterliegenden Erfahrungen, die diese Symptome entstehen lassen. Wenn es uns
gelingen würde, diese Erfahrungen zu fokussieren und für den Lösungsprozess wieder in Gang zu bringen, dann verlieren sich auch die Symptome. Es gibt beispielsweise Menschen, die haben aufgrund in der Kindheit gemachter Erfahrungen für sich festgelegt, sich nie wieder kontrollieren lassen zu wollen. Kommen sie in eine Situation, in der das angetriggert wird, reagieren sie panisch, weil sie Ängste entwickeln und sich dagegen wehren. Ihnen diese Ängste und Negativerfahrungen zu nehmen, darum geht es. In diesem Sinne löst EMDR natürlich keine körperlich bedingten Krankheitsbilder auf, es trägt möglicherweise aber dazu bei, dass Menschen in adäquater Weise damit umzugehen lernen.
Sie sprachen eben von „EMDR für alle“. Das kann man durchaus so sagen. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl vergleichender Studien, in denen EMDR eine große Rolle spielt. Wobei es nicht darum geht, dass eine Methode besser ist als eine andere, sondern darum, wie verschiedene Ansätze zum Wohle des Patienten oder der Patientin einander ergänzen. Dabei gibt es gute Gründe, EMDR aktiv einzubeziehen, insbesondere dann, wenn ich mit anderen therapeutischen Ansätzen nicht weiterkomme.

Wie zeigt sich die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis – zum Beispiel in der Ausgestaltung der Methodik?

Es gibt das Grundkonzept von Francine Shapiro, das individuell – bezogen auf die jeweilige
Patientensituation – verschiedene „Spielarten“ ermöglicht. Letztlich geht es dabei immer um die Frage:
Funktioniert eine Regel in einer bestimmten Art und Weise? Und welcher Modifikationen bedarf es, damit die Wirkung von EMDR bestmöglich spürbar wird. Davon ausgehend kann ich meinen Behandlungsplan verändern und an die jeweilige Herausforderung anpassen. Das ist für mich ein Vorteil der Methode.
Ich bin grundsätzlich kein Freund von zu vielen Spezialprogrammen. Vielmehr sollten wir auf die Dinge, die uns in der jeweiligen Therapiesituation wichtig erscheinen, Rücksicht nehmen. Jede Regel wird immer eine Ausnahme haben, aber ich muss nicht aus jeder Ausnahme eine neue Regel machen. – Zudem haben wir inzwischen besser verstanden, dass der Vorbereitung einer EMDR-Behandlung mehr Rechnung getragen wird, damit die Menschen es leichter haben, sich in die für sie wichtigen Themen einfühlen zu können. 

Prinzipiell gibt es den allein selig machenden Ansatz in der Psychotherapie nicht. Mit EMDR haben wir eine sehr gute Methode, die wir in unterschiedlichen Bereichen einsetzen können. Wie es das Wesen von Psychotherapie ist, entwickelt diese sich permanent weiter und konfrontiert uns immer wieder mit Fragen, für die wir neue Lösungen brauchen, gerade auch im Zusammenspiel mit anderen therapeutischen 
Konzepten.

Infos zu unserem Interviewpartner

Peter Liebermann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis in Leverkusen. Er ist
Gründungsmitglied des wissenschaftlichen Fachverbandes EMDRIA und Senior Trainer am EMDR-Institut
Deutschland. Im Rahmen des Fachtags referierte er zum Thema „Körper, Schmerz und pathogene
Erinnerungen – der therapeutische Nutzen von EMDR“.

Seinen Vortrag anlässlich unseres Fachtages können sie sich hier downloaden.

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